In der deutschen Industrie geht vielfach die Sorge um, von internationalen Konkurrenten aufgrund der Digitalisierung abgehängt zu werden. Vermutlich arbeiten einige Unternehmen mit hohem Aufwand an einem »perfekten« Plan für die digitale Transformation, inklusive der Technologie und sogar organisatorischen Anpassungen. Doch auch der beste Plan hält den ständig wechselnden Bedingungen der digitalen Transformation nicht stand. Um flexibel mit diesen Änderungen umgehen zu können braucht es vor allem eines – authentische und gelebte Vision.

Die Illusion des perfekten Plans

Das Bestreben alles im Vorfeld genaustens zu durchdenken, ist eine sehr deutsche und auch nachvollziehbare Herangehensweise, um mit den Unsicherheiten, die die digitale Transformation mit sich bringt, umzugehen. Das Problem an einem solchen Plan ist, dass zwischen der langwierigen Planung und auch der vollständigen Umsetzung sich so viel verändern kann, dass der Plan sowieso wieder hinfällig ist. Die entsprechenden Technologien sind äußerst schnelllebig, vielfältig und komplex. Durch diesen schnellen technologischen Wandel entstehen immer neue Möglichkeiten und Geschäftsmodelle. Im Vorfeld die richtige Kombination aus unterschiedlichen Technologien und einem passenden Geschäftsmodell zu finden, gelingt nur den wenigsten.

Die Fixierung auf Planbarkeit bis ins letzte Detail hat noch eine weitere Schattenseite: Die schiere Größe der Aufgabe kann zu einer Art »Transformationslethargie« im Unternehmen führen, bei der Mitarbeitende aufgrund der Komplexität und fehlender Fortschritte und Frustrationen und Blockaden aufbauen.

Der Nordstern und die Leitplanken

Warum sollte man den Aufwand investieren, eine Vision für die eigene digitale Zukunft zu formulieren? Vor allem, um der Belegschaft zu vermitteln, dass die digitale Transformation viele Vorteile mit sich bringt und die Arbeit attraktiv und sinnvoll bleibt: Eine Vision der digitalen Transformation kann für ein Unternehmen, die Belegschaft und sogar einzelne Mitarbeitende zum (persönlichen) Nordstern werden.

Der Mehrwert einer Vision liegt also darin, das gesamte Unternehmen zu begeistern und zu motivieren, gemeinsam das »Bergmassiv« zu erklimmen. Dabei sollte auch vermittelt werden, dass es nicht darum geht, einen bestimmten Gipfel zu erreichen, sondern gemeinsam den Anstieg zu bewältigen. Achten Sie bitte darauf, dass Ihre Vision authentisch ist, von allen mitgetragen und gelebt wird – der digitale Wandel ist eine Herausforderung, die man nur gemeinsam bewältigen kann.

Unternehmensführungen entwickeln gerne Strategien und definieren KPIs, um wichtige Veränderungen voranzutreiben. Das ist auch richtig und wichtig. Das Problem dabei ist, dass teilweise nur die Führungskräfte diese überhaupt kennen und verstehen. Die operative Umsetzung liegt aber bei allen Mitarbeitenden. Dieser Gap sorgt dafür, dass der einzelne Mitarbeitende seine Rolle innerhalb der Transformation nicht versteht und das Gefühl hat, selbst keinen Einfluss auf die Veränderungen zu haben. Selbst wenn diese Person einen Beitrag leisten möchte, sieht sie keine Möglichkeit, sich konkret einzubringen. Die Veränderung wird über die Köpfe und Arbeitsplätze derjenigen hinweg geplant, die sich eigentlich verändern sollten. Die teils dystopischen Szenarien aus den Medien, in denen die Belegschaft die Transformation nicht unterstützt oder sogar sabotiert, können nur Wirklichkeit werden, wenn Transformation als etwas Fremdes, Bedrohliches wahrgenommen wird – und nicht als Chance, die eigene berufliche Zukunft mitzugestalten.

Um nun diese Kluft zu überbrücken und die Belegschaft zu selbstwirksamen Beteiligten zu machen, sollten als Teil der Vision Prinzipien und Grundsätze vermittelt werden, die alle in ihrer alltäglichen Arbeit berücksichtigen können. Insbesondere in Entscheidungsprozessen kann der Mitarbeitende diese Prinzipien als operativen Kompass heranziehen und so selbst im Prozess der Transformation mitwirken. Es geht also nicht darum, das richtige Ziel zu erreichen, sondern auf dem richtigen Weg zu bleiben.

Zum Schluss muss ich Ihnen noch ein Geständnis machen. Die Metapher mit dem Erklimmen eines Berges suggeriert, dass die Transformation Ihres Unternehmens irgendwann abgeschlossen ist. Allerdings könnte nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein. Durch die ständigen Änderungen entstehen für Sie auch immer weitere Optimierungspotenziale. Sehen Sie es als Bestandteil Ihres KVPs. Freuen Sie sich, wenn Sie Ihre Belegschaft mit einem wichtigen Rüstzeug ausgestattet haben: dem Nordstern und den Leitplanken.

Auch der Automotive Initiative 2025 (AI25) ist die Bedeutung dieses Themas bewusst und deshalb war die Entwicklung einer Vision in Form von Prinzipien ein wesentlicher inhaltlicher Bestandteil der AI25 im Jahr 2022.

Die AI25 existiert seit 2021 hat den Anspruch die digitale Fabriktransformation ganzheitlich voranzutreiben und betrachtet neben der reinen Technik auch die Bereiche Mensch und Organisation. Die Vision wurde gemeinschaftlich durch ein Projektteam aus Personen der AUDI AG, der TU München und dem Fraunhofer IAO entwickelt. Diese bildet die Basis für weitere AI25-Aktivitäten innerhalb von Audi, wie z.B. Qualifizierungen von Mitarbeitenden oder die Umsetzung weiterer Pilotprojekte in diesem Jahr.

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Christian Blümel

Christian Blümel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer IAO im Forschungs- und Innovationszentrum Kognitive Dienstleistungssysteme in Heilbronn. Dort befasst er sich mit Fragestellungen rund um die digitale Fabriktransformation und dem Einsatz von KI in der Produktion.

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Kategorien: Digitalisierung, Künstliche Intelligenz
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